Zwei Orte, die um mehr als 11.000 km auseinanderliegen, wetteifern um den Status, das südlichste Korallenriff der Welt zu sein! Da die südliche Ausdehnung des Riffs Aliwal Shoal vor der Ostküste Südafrikas nicht genau kartografiert ist, könnten auch die Riffe der kleinen Insel Lord Howe zwischen Neuseeland und Australien die südlichsten sein. Beide liegen ungefähr auf dem 30. südlichen Breitengrad und sind damit wesentlich südlicher als alle anderen bekannten Korallenriffe unseres Planeten. Zum großen Barriereriff Australiens sind es von Lord Howe immerhin noch knapp 2.000 km!
Ostküste Südafrikas
Beginnen wir einmal mit den Riffen Aliwal Shoal etwa 50 km südlich von Durban an der Ostküste Südafrikas. Dies ist leider kein Riff, das wir in Ruhe vom Ufer aus betauchen oder erschnorcheln können, denn es liegt etliche Kilometer vor der Küste. Auch die Bootsfahrt dorthin ist mehr als ein kleines Abenteuer, denn einen Blick auf das vielleicht südlichste Riff der Welt bekommt man nicht umsonst. Um die extremen Strömungsverhältnisse dieses Lebensraums, in dem die Korallen weit südlich des eigentlichen Riffgürtels existieren, anschaulich zu beschreiben, hier ein kurzer Blick auf den Anfang unserer Ausfahrt zum Riff.
Sehr früh morgens treffen wir uns mit dem Skipper und seinem Boot auf einem Anhänger am hundert Kilometer langen Sandstrand. Die lange Dünung aus dem Indischen Ozean bricht sich in durchaus erheblichen Wellen, und jeder stellt sich sofort die Frage, wie wir es bewerkstelligen sollen, dort hindurch zu kommen. Genau dafür gibt es zuerst eine Einweisung, die strikt zu befolgen ist: Einer geht voran und zieht die Bugleine des Zodiacs in Richtung der Wellen. Dieser bedauernswerte Zeitgenosse wird aufgrund der Wassertiefe viel Wasser schlucken, soviel ist klar. Die anderen schieben das Boot von hinten mit aller Kraft in die Wellen hinein, so weit, dass der Motor ins Wasser gelassen werden kann. Dann klettert der Bugmann mit der Zugleine schnell ins Boot – vorausgesetzt, er bekommt noch Luft –, und dann alle anderen, und sie krallen ihre Füße schnell in die Fangschlaufen am Boden des Boots. Der Skipper fährt dann in der Gischt parallel zum Strand auf und ab, bis er eine Welle so einschätzt, dass er sie ohne Überschlag durchfahren kann. Jetzt kommt das eigentliche Abenteuer, denn nun geht es mit Vollgas aus 300 PS in die sich gerade brechende Welle. Das Boot steht dabei kurz senkrecht und kippt dann in der Regel nach vorn auf das Wasser. Dann ist es geschafft, und alle können sich während der kommenden dreißig Minuten Bootsfahrt über den rauen Indischen Ozean in Ruhe übergeben.
Sogar das Abtauchen zum Riff, das in etwa 30 m Tiefe liegt, ist etwas speziell. Normalerweise lassen sich alle Taucher nacheinander und in Ruhe rückwärts ins Wasser fallen, paddeln an der Oberfläche gemütlich zur Ankerleine und tauchen dann gemeinsam ab. Bei den Wellenbergen und der herrschenden Oberflächenströmung geht es hier nur so: Alle auf einmal ins Wasser, sofort schnellstmöglich Abtauchen und in 30 m Tiefe irgendwie wieder zusammenfinden.
Unseren unerfahrensten Taucher haben wir dabei dann gleich einmal verloren. Er wurde vom Boot wieder eingesammelt und hat den Tauchgang leider verpasst. Sehr schade, denn dieses Riff hat es in sich. Wer das trübe und strömungsreiche Wasser der ersten zwanzig Meter passiert hat, wird von relativ klarem Wasser und patroullierenden Sandtigerhaien erwartet. Wir Meerwasseraquarianer sagen den Haien kurz „hallo“ und bestaunen die Korallenvielfalt, die wir in dem kalten und tiefen Wasser nicht erwartet hätten. Die Literatur sagt immer, dass riffbildende Korallen rund 20 °C als kälteste Temperatur vertragen. Hier sinken die Wassertemperaturen im Winter (Juni bis August) deutlich unter zwanzig, meist auf 16–17 °C! Dennoch finden wir die roten Tubastraea, Dendronephthya-Weichkorallen, schwarze Tubastraea micracanthus, Gorgonien, gelbe Krustenanemonen und sehr viele Schwämme. Verzweigte Steinkorallen wie Acroporen fehlten allerdings komplett. Eine weiße Korallenart war uns vollkommen unbekannt!
Pseudanthias-Fahnenbarsche stehen in Hundertergruppen in der Strömung und schnappen nach Plankton. Wären da nicht die vier Meter langen Sandtigerhaie, würde man sich auf den Malediven wähnen!
Wir sind Meerwasseraquarianer und haben einen Blick für Korallen und aquariengeeignete Fische. Doch die meisten derer, die hier tauchen, sind reine Tauchbegeisterte und kommen wegen eben dieser Sandtigerhaie. Um ihnen zu begegnen, nehmen sie die Strapazen und die erquickende Bootsfahrt auf sich. Leider schwimmen Taucher den Tieren bisweilen in die Höhlen nach und vertreiben sie durch ihre Aktivitäten. Der Haiexperte Andy Cobb lehrte uns in einem Vortrag, dass wir einfach nur am Boden warten sollten. Die Haie sind neugierig und werden zu uns kommen. Nun ist die Tauchzeit in 30 m Tiefe etwas begrenzt, aber das Warten lohnte sich! Die Tiere schwammen in aller Seelen Ruhe in 50 cm Entfernung an uns entlang.
Auf dem Rückweg zum Strand stoppten wir noch kurz bei einem Buckelwal, bei Mantas und bei einer Gruppe Schwarzspitzenhaien im Freiwasser, bevor unser Boot mit Vollgas auf den Strand zufährt, um beim Stillstand schließlich auf eine Seite zu kippen und die Hälfte unseres Teams dabei auf den Sand zu entleeren.
Östlich von Australien
Begeben wir uns auf die andere Seite der Erdkugel. Mitten im Nichts des Pazifiks liegt das kleine Eiland Lord Howe, aquaristisch bekannt durch die inzwischen außerordentlich beliebte Koralle Micromussa lordhowensis, die früher zur Gattung Acanthastrea gestellt war. Da diese Insel eine kurze Landebahn besitzt, können wir von Sydney oder Brisbane aus direkt dorthin fliegen. Es gibt sogar fünf Hotels zur Auswahl und mit „Pro Dive Lord Howe“ ein sehr gutes Tauchcenter. Ornithologen pilgern förmlich nach Lord Howe, da die Felserhebung im Norden der Insel, der 875 m hohe Mount Gower, zeitweise von über 30.000 Seevögeln belagert wird. Sir Richard Attenborough filmte einmal die absturzartigen Landungen der Tölpel im bewaldeten Bergrücken – einfach sensationell. Für uns Nicht-Vogelkundler ist es einfach nur schön, Seevögel auf der Insel zu erleben, die keinerlei Angst vor Menschen haben.
Neben Ornithologen, die nach Vögeln suchen, und WingSuit-Fans (tolle Videos auf YouTube!) können wir auf der Mini-Insel Lord-Howe-Island mit etwas Glück aber auch Meerwasseraquarianer antreffen. Ihr Ziel ist ein Felsen, der etwa 30 km entfernt liegt: Ball‘s Pyramid ragt aus großer Tiefe kommend als alleinstehender Felsen mit 560 m Höhe aus dem Wasser.
Auf diesem Felsen entdeckten Wissenschaftler vor zwei Jahrzehnten den für ausgestorben gehaltenen Baumhummer Dryococelus australis , ein Insekt, das „Lord Howe Island Stick Insect“ genannt wird („Lord-Howe-Insel-Stabinsekt“). Die Population dieses endemischen Tiers wurde von Ratten ausgelöscht, die 1918 mit einem Versorgungsschiff auf die Insel gelangt waren. 1960 wurde diese Wirbellosenart für ausgestorben erklärt. Nachdem man 1969 aber zwei tote Baumhummer entdeckte, nahm man den Felsen genauer unter die Lupe, und ab 2003 gelang es Stephen Fellenberg, mit zwei gefangenen Pärchen, diese Art künstlich zu vermehren, um sie auszuwildern. 2008 zählte man schon 450 Tiere, 2012 schon 9000. Das zeigt, wie wichtig die Nachzucht bedrohter Tierarten für den Artenschutz sein kann, und unter diesem Aspekt sollte man auch die Nachzuchtbemühungen der Meerwasseraquarianer sehen.
Endemischer Kaiserfisch
Die Aquarianer zieht es aber aus einem ganz anderen Grund dorthin: Nur dort, und ganz selten auch an weiteren Riffen der Tasmansee, lebt der Kaiserfisch Chaetodontoplus ballinae , dessen Artepitheton also nichts mit der Insel Bali zu tun hat, denn er bezieht sich auf den Felsen Ball‘s Pyramid.
Bei meinem Inselbesuch unternahmen wir drei Versuche, über die offene See zum Ball‘s Pyramid zu fahren und mussten alle drei wegen zu hoher Wellen abbrechen. Sehr ärgerlich, aber die Insel bietet mit ihren Riffen und dem Mix mit der Unterwasserfauna Südaustraliens auch wirklich schöne Alternativen. Der endemische Falterfisch Amphichaetodon howensis aus einer nur zwei Arten umfassenden Gattung ist gar nicht so selten zu sehen. Die Häufigkeit einer Art ist tatsächlich etwas, das gerne verschwiegen wird. Was nützt es uns, wenn wir z. B. nach Hawaii fliegen, um endlich einmal eine Drachenmuräne (Enchelycore pardalis) im natürlichen Lebensraum zu erleben und nicht im Aquarium, dann vor Ort aber hören, dass die letzte Drachenmuräne vor fünf Jahren gesichtet worden sei! Bei Lord Howe sind fast alle Meeresbewohner auf ein relativ kleines Riffsystem konzentriert. Dadurch steigen unsere Chancen, die dort lebenden Spezies auch wirklich zu Gesicht zu bekommen!
Dorado für Zieralgenliebhaber
Für viele pazifische Korallenfische wie Chaetodon mertensii bildet Lord Howe die südliche Verbreitungsgrenze. Und wenn wir Chaetodontoplus ballinae bei Ball’s Pyramid auch verpasst haben, entschädigt uns immerhin der Anblick von Chaetodontoplus conspicillatus. Auch den seltenen Anemonenfisch Amphiprion mccullochi zu erleben ist nicht alltäglich, doch hier gelingt es mit einiger Sicherheit. Sind Sie ein Freund von Zieralgen im Aquarium? Bei Lord Howe Island finden Sie Algen, die Sie mit Sicherheit noch nie gesehen haben! Im flachen Wasser, in Schnorchelentfernung zum Strand, wachsen die schönsten Unterwassergärten, die so grün sind, dass ein bepflanztes Süßwasseraquarium dagegen wie eine Wüste wirkt.
Am beliebten Neds Beach im Nordosten der Insel werden für die wenigen Touristen, die sich nach Lord Howe verirrt haben, im Flachwasser des Sandstrands am Spätnachmittag manchmal Fischfütterungen durchgeführt. Das Spektakel ist durchaus sehenswert, weil Makrelen und andere Hochseebewohner sich die Fischstücke mit Seevögeln teilen. Unter Wasser sieht es lustig aus, wenn die Schwimmfüße der Vögel zwischen den herumschießenden Makrelen paddeln. Richtig interessant wird es allerdings, wenn die Touristen abgezogen sind und Ruhe einkehrt. Einige Fischstücke sind zwischen die Felsen gesunken, und dann ist nur etwas Warten angesagt, bis die ersten Haie eintreffen. Ihr Geruchssinn führt sie unweigerlich zu jedem einzelnen Fischstückchen, um das dann intensiv gekämpft wird. Da Haie aber nie in den ihnen nachgesagten Fressrausch verfallen, ist das Kämpfen einfach nur Futterneid, und man ist als Schnorchler absolut sicher, kann sogar erleben, wie die Haie am Fischrest zerrend gegen die Kamera schwimmen. Wer also Algen und Riff satt hat, kann zum Hai-Programm übergehen.
Eine Sache blieb mir allerdings bis heute unklar: Eine Fischart wies gehäuft Kiemendeckeldeformationen auf. Wären wir in der Nähe eines ehemaligen Atomtestgeländes unterwegs, würde ich auf atomare Spätschäden tippen. Aber Mururoa oder Tuamoto sind rund 6.000 km entfernt. Irgendetwas läuft für diese Spezies anders als für alle anderen Fischarten, die hier leben.