Von der Corona-Problematik einmal abgesehen, fliegen Menschen aus den verschiedensten Gründen nach Südaustralien: Viele wollen sich einfach nur ein paar Felsblöcke im Meer zwischen Melbourne und Adelaide ansehen, die man „Die 12 Apostel“ nennt, andere wiederum besuchen Motorradrennen auf Phillip Island bei Melbourne und wir Aquarien-Verrückten fliegen um die halbe Welt um ein paar der skurrilsten Fische überhaupt zu beobachten: Die Fetzenfische!
Wer diese Fische das erste Mal auf Fotos, in einem Film oder in einem Aquarium gesehen hat, kann nur staunen und begeistert sein. Knapp fünfzig Zentimeter lange Seepferdchen in bunt oder mit Anhängen, die wie Algen aussehen. Ich denke niemand von uns würde nach Südaustralien reisen, ohne im Meer nach diesen ganz besonderen Fischen Ausschau zu halten.
Es gibt zwei Arten von Fetzenfischen: Den großen Fetzenfisch, Phycodurus eques, von den Australiern Leafy Seadragon oder Leafys genannt (Blatt-Seedrachen) und den kleinen Fetzenfisch, Phyllopteryx taeniolatus, den die Australier „Weedy Seadragon“ nennen(Algen-Seedrachen).
Beide Arten leben nicht in den warmen Regionen Australiens, sondern tatsächlich nur in den kalten Gewässern rund um die Südküste des Kontinents. Die Verbreitungsgrenze reicht bei beiden Arten an der Westküste hoch, bis 200 km nördlich von Perth, komplett entlang der Südküste inklusive Tasmanien und dann endet sie für die Großen Fetzenfische bei Melbourne, während die Kleinen Fetzenfische noch entlang der Ostküste hoch bis zum Raum Sydney vorkommen.
Die erste Begegnung mit dem kleinen Fetzenfisch
Meine erste Begegnung mit den Kleinen Fetzenfischen, die mit 45 cm eigentlich gar nicht klein sind, fand bei Sydney statt. Tagsüber war ich beruflich beschäftigt und so blieb nur die Nacht zum Tauchen. Ich fuhr mit dem Taxi abends vom Hotel kurz beim Tauchladen die vorher telefonisch georderte Pressluftflasche abholen und weiter zum nächsten Strand namens Shelley Beach, etwas nördlich von Sydney. Das Taxi setzte mich am dunklen Strand mit meinem ganzen Gerödel ab und weg war es. Für das recht frische Wasser mit 19 °C war ein 6 mm Anzug schon nötig. Die Sonnenschirme am verlassenen, nächtlichen Strand sahen etwas gespenstisch aus, aber die Vorfreude auf die Chance, Seedrachen zu finden, überwog alles andere. Ab ins kalte Wasser, kurz den Kompass auf die Küste einstellen und los ging es. So ein Strandbereich ist unter Wasser schon tagsüber recht trostlos, aber nachts ist es noch trostloser – wenn dies überhaupt möglich ist. Das erste Lebewesen in der Sandwüste war ein Port Jackson Hai, der sich ausschließlich von Krebsen und Muscheln ernährt. Zudem scheinen sie extrem anhänglich zu sein, denn er blieb den gesamten Tauchgang bei mir! Ich erschreckte mich jedesmal, wenn er wieder unter meinem Arm zu meiner Taucherbrille geschwommen kam. Der Sandboden schien unendlich, aber auch auf Sandboden leben ja interessante Fische. Man muss sie nur finden! Nach weiteren 20 Minuten konnte ich einen Rochen finden, dann noch einen und noch einen. Das wirklich Tolle in kalten Meeresregionen ist, dass wir die meisten Tierarten nicht kennen. Als Meerwasseraquarianer sind uns die meisten tropischen Arten irgendwie geläufig, aber die Kaltwasserarten? Als ich dann noch ein Motorradwrack fand, hatte ich genug. Keine Fetzenfische, keine vielfältige Fauna, nur meinen treuen Begleiter und die Rochen. Ich tauchte kurz an die Oberfläche, um mich zum Orientieren. Ich wollte an das östliche Ufer der Bucht und nicht in den offenen Pazifik. Dort musste es Felsen und damit auch mehr Leben geben. Und tatsächlich: Die Felsen waren voller Leben und es wurde richtig spannend. Zuerst konnte ich einen größeren Wels in gesprenkeltem Gelb beobachten. Meines Wissens nach gibt es nur zwei Arten im Meer: Plotosus lineatus und P. canius. Aber keiner von beiden wird als adultes Tier gelb gesprenkelt. Bestimmt eine Neuentdeckung, denn welcher Trottel geht schon nachts in dieser Weißhairegion Fische suchen?
Und es ging spannend weiter: Maulbrütende Kardinalbarsche mit vollem Maul schwammen zwischen den Felsen, waren aber zu unvorsichtig und wurden vom gut getarnten Teppichhai sofort verschlungen. Die an sich harmlosen Teppichhaie sind für die meisten Unfälle mit Tauchern verantwortlich. Taucher fassen diese am Boden liegenden Haie oft am Schwanz an und werden dann schlagartig in die Hand gebissen, da Teppichhaie so wendig sind, dass sie unerwartet mit ihrem Maul ihre Schwanzflosse und damit die Taucherhand erreichen!
Meerbarben lagen schlafend herum und es ist immer wieder faszinierend, welchen Schlafanzug unsere Fische tragen! Einige Arten sehen nachts vollkommen anders aus, als am Tag. Aber warum bloß, denn es gibt kein Licht, wodurch die Nachtfärbung einen Vorteil bieten würde. Bei Vollmond ist es auch unter Wasser bis in fünf Meter Tiefe noch relativ hell, aber auch unterhalb von fünf Metern tragen sie den gleichen Schlafanzug. Egal – eigentlich suche ich nach Seedrachen. Einige Seesterne krabbeln herum und die Tiere sind so schön gefärbt, dass ich mich augenblicklich frage, was ein Kühlaggregat für mein Aquarium kosten würde. Was für eine Farbenpracht!!!
Und dann endlich: Ein Fetzenfisch! Der Kerl ist gute 40 cm lang und mag meine Lampe so gar nicht. Zum Glück kann er mit seinen Flösselchen nicht schnell schwimmen. Am liebsten hätte ich ihn einfach umgedreht, um ein Portrait von ihm zu bekommen. Aber so etwas macht man ja nicht, auch wenn es keiner mitkriegen würde.
Ich beobachtete den Fetzenfisch, bis meine Flasche mehr als leer war. Was für eine Begegnung! Mit leerer Flasche schnorchelte ich zurück zum Strand und sinnierte darüber nach, wie ich in dieser einsamen Region ein Taxi zurück zum Hotel finde…
Auf der Suche nach dem großen Fetzenfisch
Da es bei Sydney nur den Kleinen Fetzenfisch gibt, reiste ich weiter in den Süden nach Adelaide. Ein befreundeter Meeresbiologe, Ben Brayford, sagte mir, dass bei Adelaide eine gute Chance bestünde, den Großen Fetzenfisch zu sehen. Er brachte mich südlich von Adelaide, Richtung Kangaroo Island, zu einem Pier, der unglaublich hässlich aussah. Mit leuchtenden Augen erzählte er von den Großen Fetzenfischen, die er hier schon gesehen habe. Ich hatte mir einen schönen wilden Strand ausgemalt, aber keinen halb zerfallenen Betonpier mitten im Nichts. Aber wenn Ben so begeistert war, muss es seinen Grund haben. Das Wasser war noch einmal eine ganze Spur kälter und so fand ich es verwunderlich, dass unser dritter Mann keinen Tauchanzug anzog. Seine kurze Erklärung: „Wir haben gerade Sommer und da ziehen nur Weicheier Anzüge an.“ Okay, ich gehöre dann gerne zu den Weicheiern, wunderte mich aber dann gleich wieder, als die Beiden irgendwelche elektrischen Geräte an ihre Beine schnallten. Seit einigen Attacken von Großen Weißen Haien an der Südküste Australiens hatte die Regierung elektrische Haiabwehrgeräte vorgeschrieben. Sie sollten durch Stromfelder Haie abwehren können. Nun denn: Meine beiden Begleiter waren gut gerüstet und ich ging leer aus. Das Wasser war nicht nur kalt, sondern auch nicht wirklich klar. Es herrschten riesige Algenbestände vor, die nur stellenweise von Felsformationen durchbrochen wurden. Schon ein erster Blick auf die Ecklonia-Algen machte klar, warum die Fetzenfische durch ihre Fetzen perfekt getarnt waren. Sie haben mit ihren Körperanhängen diese Algenart imitiert. Da es diese Algen nur im kalten Wasser gibt, wären sie im nördlicheren und damit wärmeren Wasser ohne Schutz. Wer den Namen Ecklonia googelt, wird allerlei Wundermittel aus dieser Alge angeboten bekommen.
Bei einer größeren Felsformation entdeckte ich den relativ seltenen Bleekers Mirakelbarsch (Paraplesiops bleekeri). Das Tier kannte ich nur von Fotos und es war phantastisch, ein Exemplar eine Weile zu beobachten. Diese bis 40 cm groß werdenden Fische kommen ausschließlich im Südosten Australiens vor. Warum sie auf diese Region eingeschränkt sind, ist unklar. Eigentlich sind sie dämmerungsaktiv und verbergen sich tagsüber in Höhlen und Spalten. Mein Exemplar wusste davon nichts und war zur Mittagszeit putzmunter. Ich suchte intensiv nach einem zweiten Exemplar, denn sie betreiben eine sehr intensive Brutpflege. Meine beiden Begleiter hatte ich in der trüben Suppe schon länger aus den Augen verloren und ich hoffte, dass die Weißen Haie heute mal wo anders unterwegs seien, muss aber zugeben, dass ich mich in trübem Wasser mit der Wahrscheinlichkeit auf Weißhaibegegnungen nicht sonderlich wohl gefühlt habe. In den umgebenden Algen fand ich dann auch endlich den ersten Großen Fetzenfisch! Seine wirkliche Größe von 35 cm überraschte mich dann doch etwas. Die gelbliche Farbe ist typisch für die Tiere, die in seichteren Regionen leben. In größeren Tiefen zeigen sie dunklere Farben. Wie bei allen Seepferdchenarten ist auch hier das Männchen für die Brutpflege verantwortlich. Jedoch tragen die Männchen die bis zu 300 Eier AUßEN am Körper in der Schwanzregion und nicht in einer Bruttasche. Ihre Zucht hier in Australien ermöglicht den Export der Tiere in Schauaquarien der ganzen Welt. Allerdings ist kein einziges Aquarium in der Lage, den Lebensraum der Fische mit echten Ecklonia-Algen nachzustellen. Große Tange lassen sich in Aquarien mit künstlichem Meerwasser nicht dauerhaft pflegen. Die biologische Anstalt Helgoland hat Versuche mit Kaltwasseralgen gemacht und konnte die Algen erst dann erfolgreich über lange Zeiträume in Aquarien kultivieren, wenn sie echten Nordseewasser in die Becken einfüllten. Egal, welche Spurenelemente sie künstlich zugaben – die Algen gingen immer zu Grunde. Die großen Schauaquarien in Tokio und Monterey bestätigen diese Problematik und haben daher großen Pumpen mit Vorfiltern im Meer gebaut, die das Wasser in die meterhohen Aquarien pumpen. Nur so können die Besucher echtes Kelp (bis zu 30 m hohe Braunalge) bestaunen. Im 7 m hohen Kelpaquarium des Haus des Meeres in Wien wird wegen dieser Problematik mit (relativ echt aussehendem) Plastik-Kelp gearbeitet.
Fetzenfische im Aquarium?
Beim Anblick des Großen Fetzenfisches in „SEINEN“ Ecklonia-Algen musste ich an die Exemplare denken, die mit Plastikalgen im Aquarium von Sydney ihr Leben fristen. Sydney wäre eigentlich auch in der Lage, echtes Meerwasser in die Aquarien zu pumpen. Wahrscheinlich ist es zu aufwendig…
Dabei ist die Pflege der Fetzenfische in Aquarien ab 800 Litern, von den Algen abgesehen, kein Problem. Kleine Mysis, große Artemien und sonstiges Futter, solange es sich bewegt, nehmen sie ohne große Umgewöhnung an. Sie fressen jedoch ähnlich langsam wie Seepferdchen und dürfen daher nicht mit anderen Fischen vergesellschaftet werden. Ehe Fetzenfische und andere Seepferdchenartige realisieren, dass Futter vorhanden ist, haben andere Fische es bereits im Bauch. Der größte Aufwand für die Pflege von Seedrachen ist sicherlich die Wassertemperatur. Über 20 °C sollte sie dauerhaft nie steigen und das ist bei uns in Deutschland nur mit großen und damit teuren Kühlaggregaten zu schaffen.
Wir haben bei JBL, wie die BAH (Biologische Anstalt Helgoland), auch einmal Versuche zur Algenkultivierung unternommen und waren tatsächlich in der Lage, einige tropische Braunalgen über einen langen Zeitraum mit unserer TRACE MARIN Spurenelemente-Reihe zu pflegen. Eine Erkenntnis war, dass die Eiweißabschäumer große Mengen Spurenelemente abschäumen, bevor sie von den Wirbellosen und Algen verwendet werden. So musste eine Analyse erstellt werden, welche Spurenelemente in welcher Menge abgeschäumt werden und die Konzentrationen im Produkt genau daran angepasst werden. Aber bei Kaltwasserarten scheint es noch einmal eine ganze Spur komplizierter zu sein!
Zurück zur Begegnung mit unserem Riesenseepferd: Bei dem Großen Fetzenfisch sind Fotoaufnahmen zum Glück nicht schwierig. Er ist, wie auch sein Kollege der Kleine Fetzenfisch, recht träge und verlässt sich auf seine Tarnung. Selbst bei Makroaufnahmen von seinem imposanten Kopf erfasste er nicht, dass seine Tarnung aufgeflogen war. Solche entspannten Fische wünschte ich mir häufiger. Jeder Lippfisch mit seiner hüpfenden Schwimmweise treibt einen Unterwasserfotografen in den Wahnsinn, aber Fetzenfische? Die sind absolute Topmodelle!